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Digitaler Katalog Egon Eiermann

Matthäuskirche
1951-1956

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Matthäuskirche

»Gestern ist die Kirche zum ersten Mal im künstlichen Licht nachts erschienen. Der Eindruck von den Bergen her besonders, ist überhaupt nicht zu beschreiben. Von innen nach außen kommen die Gläser wieder zu einer völlig neuen Wirkung. Gestern abend hat eine regelrechte Wallfahrt eingesetzt, um das Wunder zu bestaunen.« So beschreibt Egon Eiermann im Mai 1953 spürbar bewegt seinen ersten, gerade vollendeten Kirchenbau in einem Brief an Hans Theo Baumann, Glasmaler und Industriedesigner aus Schopfheim, der die Gläser für die Kirche gestaltete.

Während in der ersten Planung noch vorgesehen war, die Kirche mit einfachen Glasfenstern zu belichten, entwickelte Eiermann die Vorstellung, in kleine Steine Gläser einzulassen und diese mit Vollsteinen abwechselnd zu versetzen. Erst in der letzten Planungsphase entstand die Idee, die Kirchenwände vollständig mit Glassteinen auszufachen: Über 2 000 farbige Gussglassteine, in roten, blauen, gelben und grünen Farbtönen, vollfarbig oder mosaikartig aufgelöst, wurden für die Matthäuskirche gefertigt. Die kleinen Scheiben sind in quadratische Formsteine eingelassen, die die Wandfelder der Kirche ausfüllen. Der gleichmäßige Raster aus rötlichen Steinen wird von wenigen weißen Formsteinen unterbrochen, die rankenartig um die Stützen gesetzt sind. Speziell die Steine bewahren ein besonderes Gedächtnis an das Kriegsschicksal der Stadt Pforzheim, denn sie sind aus Beton gegossen, dem gemahlener Trümmerschutt der am 23. Februar 1945 fast völlig zerstörten Stadt beigemengt wurde.

Die neuartige Bauweise fand nicht nur Befürworter, auch Egon Eiermann war sich über die Wirkung zunächst nicht sicher. Nachdem die Formsteine eingesetzt waren, wirkten die Aussparungen im Gegenlicht wie kleine schwarze Punkte. »Aus tausend Augen glotzt mich der Raum an, war Eiermanns verzweifelter Aufschrei«, erinnert sich sein Mitarbeiter Helmut Striffler. Doch kaum waren die ersten Gläser eingesetzt, wurde die faszinierende Lichtwirkung deutlich. Der Innenraum wird in ein Lichtspiel aus Farbe getaucht, das sich ständig, je nach Helligkeit und Sonnenstand, wandelt.

Neben den Lichtsteinen erregte auch die Konstruktion der Kirche, die offen sichtbaren Binder des Stahlbetonskelettbaus und der damals noch unverputzte rohe Beton Aufsehen. Mit äußerster Konsequenz setzte Eiermann moderne Baumaterialien auch bei der Innenraumgestaltung und -ausstattung ein: ob in dem über dem Altar schwebenden Betonbaldachin oder bei der Gestaltung der Traggestelle von Altar, Tischkreuz und Taufschale, die aus einfachen, sich kreuzenden Stahlrohren bestehen. Gerade die Stahlrohrkonstruktion des Altars sollte als »Eiermann-Arbeitstisch« Bekanntheit erlangen.

Die Idee, aus Glassteinen leuchtende Kirchenwände zu errichten, griff Egon Eiermann in späteren Werken wieder auf, so im Projekt für die Evangelische Stadtkirche in Karlsruhe oder in seinem berühmtesten Bauwerk, der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, wo er die diaphane Wand zweischalig gestaltete. Auch die Ausstattung in Berlin – insbesondere die Kapelle – ist ohne den Pforzheimer Vorgängerbau nicht denkbar.

So kommt der Matthäuskirche ein besonderer Stellenwert in Eiermanns Schaffen zu, hier fand er zu einem Formenkanon für seine Kirchenbauten. Denn wie er selbst beschrieb, bestand seine Arbeit darin, »bestimmte Erfahrungen und Kenntnisse, die ich im laufe meiner Arbeit gesammelt habe, als Standard, d. h. mit dem Begriff der Allgemeingültigkeit versehen, weiterzuentwickeln und sie zur Vollendung zu bringen, die Experimente ausschliesst.«

Heidi Fischer

"Egon Eiermann 1904-1970. Die Kontinuität der Moderne", Hrg. Annemarie Jaeggi, Hatje Cantz: Ostfildern-Ruit, 2004, S. 157

Projektspezifische Angaben

Projekt Matthäuskirche
Beteiligte
  • Egon Eiermann und Robert Hilgers, Architektur
Projektzeitraum 1951-1956

Objektspezifische Angaben

Typologie Sakralbau, religious buildings

Ortsspezifische Angaben

Land Deutschland
Ort Pforzheim