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Digitaler Katalog Egon Eiermann

Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
1956-1963

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Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche

Der Zweite Weltkrieg hatte von der alten Gedächtniskirche, die 1890-1895 von Franz Sehwechten als repräsentative Gemeindekirche und symbolträchtiges Denkmal für den ersten deutschen Kaiser errichtet worden war, nur eine aufgerissene Ruine übrig gelassen. Schon bald regte sich der Wille zum Wiederaufbau des markanten Bauwerks im belebten Zentrum West-Berlins, 1956 fand dafür ein engerer Wettbewerb statt. Neun im modernen Kirchenbau ausgewiesene Architekten wurden zur Teilnahme eingeladen, Egon Eiermann aufgrund seiner drei Jahre zuvor fertig gestellten Matthäuskirche in Pforzheim. Nach einer zweiten Wettbewerbsstufe erhielt er 1957 den Auftrag, allerdings unter der Bedingung, die Ruine des Turms, jenen »hohlen Zahn«, für dessen Abbruch er in seinen Wettbewerbsentwürfen konsequent eingetreten war, in eine neue Konzeption zu integrieren. Der Architekt beugte sich zunächst nur widerstrebend dieser Vorgabe, die von einer breiten Öffentlichkeit gefordert wurde. Bei einer von der Boulevardpresse initiierten Umfrage hatten innerhalb weniger Tage 46 000 Berliner gegen den Abbruch der »schönsten Ruine der Stadt« protestiert.

Nun erst fand Eiermann, der sich der Aufgabe mit größtem persönlichen Einsatz ohne Rücksicht auf seine Gesundheit oder die eigenen Finanzen verschrieb, in einer langwierigen Entwurfsgenese zur schließlich realisierten Lösung. Neben dem isoliert stehenden und in seinem ruinösen Zustand belas­senen Turmstumpf arrangierte er kontrastreich und dennoch mit subtilen städtebaulichen Bezügen seine neuen Baukörper: die oktogonale Kirche, den neuen Turm auf sechseckigem Grundriss sowie die viereckige Kapelle und den Foyer ge­nannten Gemeindetreffpunkt. Ein weiterer kleiner Turm bei der Kapelle konnte aus Kostengründen nicht realisiert werden. Das rechteckige Podest, zu dem sechs Stufen vom Straßenniveau hinaufführen, bindet die verschiedenen Teile räumlich zusammen und trägt dazu bei, dass sich die an italienische »Kirchenfamilien« wie in Pisa oder Pescara erinnernde Baugruppe aus ihrer unruhigen Nachbarschaft heraushebt.

Bereits lange vor der endgültigen Fertigstellung der Gesamtanlage wurde Ende 1961 die Kirche geweiht. Es kam ihr damals kurz nach dem Mauerbau eine eminent politische Bedeutung zu, konnte sie doch als Manifest einer erneuerten Rolle der Kirche in der Gesellschaft und der Präsenz des »freien Westens« im eingeschlossenen West-Berlin verstanden werden.

Die Fachpresse urteilte zunächst eher zwiespältig. Vor allem der heute so überzeugende Kontrast zwischen der wilhelminischen Ruine und den modernen Baukörpern aus Stahl und Betonwaben wurde von manchen Kritikern als Kuriosität abgetan. Andere stießen sich, funktionalistischem Denken verpflichtet, an Details wie der nur künstlerisch zu begründenden Verglasung des Glockenturms oder an der unterschiedlichen Größe der Wabenfelder von äußerer und innerer Wandschale am Kirchenoktogon, die Eiermann der Fern- beziehungsweise Nahwirkung gemäß unterschiedlich geteilt hatte.

Die Berliner hingegen, die Eiermanns Planungen zunächst misstrauisch verfolgt und bis zur Verleumdung kommentiert hatten, befreundeten sich rasch mit dem Neubau und gaben ihm im Lokaljargon den Namen »Puderdose und Lippenstift«, den objekthaften Charakter der Einzelteile damit durchaus treffend. Frieden schlossen sie mit dem Bau aber vor allem wegen des überraschenden Innenraums, wo das vorwiegend blau einfallende Licht eine fast mystisch-entrückte Stimmung erzeugt. Die zweischalige Betonverglasung, die das Gottes­haus obendrein auf eindrucksvolle Weise vom Lärm der Groß­stadt abschirmt, hatte Eiermann zusammen mit dem franzö­sischen Glaskünstler Gabriel Loire aus Chartres entwickelt.

Heute gilt die Gedächtniskirche unbestritten als Inkunabel der deutschen Nachkriegsarchitektur.

Gerhard Kabierske

"Egon Eiermann 1904-1970. Die Kontinuität der Moderne", Hrg. Annemarie Jaeggi, Hatje Cantz: Ostfildern-Ruit, 2004, S. 173f.

Projektspezifische Angaben

Projekt Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
Beteiligte
  • Egon Eiermann, Architektur
Projektzeitraum 1956-1963

Objektspezifische Angaben

Typologie Sakralbau, religious buildings

Ortsspezifische Angaben

Land Deutschland
Ort Berlin