saai | Archiv für Architektur und Ingenieurbau
Digitaler Katalog Egon Eiermann
Abgeordnetenhaus Deutscher Bundestag
1965-1969
Abgeordnetenhaus Deutscher Bundestag
Als Kapitale der Bundesrepublik Deutschland haftete der Stadt Bonn stets ein politisch gewollter provisorischer Charakter an, denn sie sollte diese Funktion nur vorübergehend bis zur erhofften Wiedervereinigung erfüllen. Umfassende Planungen zum Ausbau des Regierungsviertels hätten als Akzeptanz der Teilung Deutschlands verstanden werden können und verbaten sich daher von selbst. So begnügte man sich mit bereits vorhandenen Gebäuden, die umgebaut und erweitert wurden, und ergänzte sie in den ersten 15 Jahren der Bundesrepublik nur zögerlich mit Neubauten, die stets dem nötigsten Bedarf folgten.
Mit einer zukunftsorientierten Gesamtplanung beschäftigte sich die Bundesbaudirektion erstmals ab 1962, unterstützt durch eine eigens einberufene Planungsgruppe, der die Architekten Paul Baumgarten, Egon Eiermann und Sep Ruf als Gutachter angehörten. Unter dem Siegel strikten Stillschweigens erarbeitete sie komplette Neubaupläne für das Bonner Regierungsviertel. Abweichend von ihrer ursprünglich beratenden Funktion beauftragte man 1965 Ruf mit dem Entwurf des Bundesrates, Baumgarten mit dem Amt für Presse und Informationen und Eiermann mit dem Bundestag samt Abgeordnetenhaus. Letzteres ist das einzig ausgeführte Gebäude dieser Gesamtplanung geblieben, die sich weder politisch noch finanziell als realisierbar herausstellte.
Aus Gründen der Praktikabilität konnte für das Abgeordnetenhauses nur ein Standort in unmittelbarer Nähe zum Bundestag in Frage kommen. Doch musste von einem beträchtlichen Bauvolumen ausgegangen werden, denn neben den Büros für 450 Abgeordnete und 120 Sekretariate wurden auch 20 Ausschusssäle benötigt. Dafür war das zur Verfügung stehende Grundstück allerdings viel zu klein, sodass es dort nur die Möglichkeit einer vertikalen Erstreckung gab. Ein solches Missverhältnis zwischen Masse und Fläche hatte Eiermann bereits 1951, anlässlich des Wettbewerbs für das Auswärtige Amt, scharf kritisiert. Nun befand er sich selbst in der misslichen Lage, ein 100 Meter hohes Gebäude am Rheinufer errichten zu müssen - eine Notmaßnahme, die Hochhäuser seiner Meinung nach generell darstellten. Durch die funktional begründete Untergliederung des 29 Stockwerke umfassenden Gebäudes gelang Eiermann in Kombination mit den für ihn typischen filigranen Umgängen und horizontalen Sonnenschutzlamellen aber eine den Bau in seiner Masse und Höhenentwicklung mildernde Gestaltung.
Unter Parlamentariern hieß der Bau schlicht »NH« - neues Hochhaus, in Abgrenzung zum achtgeschossigen »alten Hochhaus« der Abgeordneten. Der bundesweit verbreitete Spitzname »langer Eugen« bezieht sich auf Parlamentspräsident und Hausherr Eugen Gerstenmaier, der den Bau des Abgeordnetenhauses initiiert hatte. Im Umlauf waren aber auch Bezeichnungen wie »Parlamentskerze«, »parlamentarische Büromaschine« und »Bundeswolkenkratzer«, die das zwiespältige Verhältnis der Bevölkerung zum »Koloss am Rhein« deutlich zum Ausdruck bringen.
Heute, nach der Wiedervereinigung und dem Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin, ist das inzwischen unter Denkmalschutz gestellte Gebäude eine touristische Sehenswürdigkeit, nämlich eine der zwölf Stationen am »Weg der Demokratie«, der das ehemalige Regierungsviertel erschließt.
Annemarie Jaeggi
"Egon Eiermann 1904-1970. Die Kontinuität der Moderne", Hrg. Annemarie Jaeggi, Hatje Cantz: Ostfildern-Ruit, 2004, S. 203f.
Projektspezifische Angaben
- Egon Eiermann, Architektur
- Horstheinz Neuendorff, Fotografie